Texte über Skulptur

Bedeutung der bildenden Kunst und Bildhauerei im Wandel der letzten drei Jahrzehnte

Eröffnungsrede Bildhauersymposium Wadersloh 2021 von Beate Freier-Bongaertz, Künstlerin und zweite Vorsitzende Kunstverein Kreis Gütersloh e.V.

Bei den Vorbereitungen zu meinem Impulsvortrag habe ich festgestellt, so einfach ist das nicht zu erklären. 

Lassen Sie mich zunächst die Wichtigkeit von Kunstwerken im öffentlichen Raum erläutern, um dann aus der Historie heraus zu verstehen, wieso sich alles so entwickelt hat.

Heute sehen Pädagogen den Kunstunterricht als wichtiges Instrument für Kinder, den persönlichen Alltag zu reflektieren. Es gibt die Aussage: Kinder, die nie ein Bild gemalt haben, eine Figur gebastelt haben, werfen irgendwann einen Stein. Kunst ist ein geeignetes Instrument, um Erlebtes zu verarbeiten, sich auszudrücken.

Das Sich-Ausdrücken will erlernt sein. Deshalb braucht Kunstunterricht Vorbilder im öffentlichen Raum. Zum Beispiel Skulpturen, die zum Stadtbild gehören und durch tägliche Begegnungen mit Ihnen den Einstieg in die Beschäftigung mit Kunst ermöglichen.

Durch Kunst den Alltag reflektieren, das gilt auch für Erwachsene. Über eine Skulptur auf einer Parkbank sitzend mit anderen ins Gespräch kommen, so kann Kunst das Miteinander, die Kommunikation fördern und anstoßen, durch Gesehenes den eigenen Gedanken neue Impulse zu geben.

An Kunst kann und soll sich der Betrachter reiben. Sie soll für Diskussionen sorgen über Soziales, Politisches oder rein formelle Fragen. Kunst ist so vielfältig wie unsere Gesellschaft. Denn Kunst und hier speziell die Bildhauerei reflektiert den Alltag. In diesem Sinne sind die Werke von den Künstlern angelegt. Der Bildhauer reagiert auf alles, was ihn umgibt. Er nimmt Farben und Formen, aber auch gesellschaftspolitische Strömungen seiner Zeit war. Diese verarbeitet er bewusst oder unterschwellig in seinen Werken. Eine Skulptur, egal ob gegenständlich erkennbar oder abstrakt, ist immer ein Zeitzeugnis.

Es gibt noch zwei weitere völlig unterschiedliche Punkte, die für Skulpturen im öffentlichen Raum sprechen.

Skulpturen als Land- und Ortsmarken. Sie sind Orientierungspunkte, die zum geflügelten Wort werden können, wie zum Beispiel in Wadersloh „Wir treffen uns bei der gelben Vase.“ Dadurch schaffen Sie eine optische Identität mit dem Wohnort, dem Zuhause.

Ein neues Phänomen unserer Zeit ist der Kunst-Tourismus. Dieser ist nicht außer Acht zu lassen. Analysen von Museen, Kunstvereinen und Stadtmarketing haben ergeben, dass in OWL und im Münsterland kunstinteressiertes Publikum an Sonntagen bis zu 100 km im Umkreis ihrer Umgebung Skulpturenpfade und Parks aufsucht. Darauf hat auch das Land NRW reagiert und aktuell eine App „NRW Skulptur“ entwickelt. Mit Hilfe dieser App können Kunstinteressierte per Fahrrad oder zu Fuß auf Entdeckungstour gehen.

…   

Nun zu der Frage: Wie kam es eigentlich zu den künstlerischen Formen der Skulpturen, wie wir sie heute in unserem Stadtbild kennen?

Hierzu werfen wir einen Blick auf den Wandel der Bildhauerei im Laufe der Zeit. Hier ein sehr grober Umriss der Geschichte, um die Veränderung besser zu verstehen.

Beginnen wir mit Michelangelos David aus Marmor, ein Meisterwerk der perfekten Abbildung des Menschen. Die Bedeutung ist jedoch eine politische. Der David wurde von der Bevölkerung als Symbol gegen die immer stärker werdenden Einflüsse der Medici gesehen, offiziell war er eine Figur gegen die Feinde der Florentiner. Die Skulptur wurde 1504 erschaffen, als in der Renaissance die Malerei die Krönung des Könnens war und die Bildhauerei nur als dreckiges Handwerk eingestuft wurde.

Zu dieser Zeit war es üblich, dass Päpste und Fürstenhäuser Auftraggeber für die Kunstwerke waren und diese in so genannten Wunderkammern sammelten. Abgebildet wurde, was die Welt erklärte und zeigte. Während Bilder in den Palästen verschwanden, wurden Skulpturen öffentlich an Gebäuden oder auf Plätzen zur Schau gestellt.

Erst 1753 öffnet das britische Museum als erstes Museum der Welt seine Türen. 40 Jahre später, 1793, eröffnet der Louvre in Paris. Ab da waren dann die Kunstwerke einer breiteren, gebildeten Öffentlichkeit zugänglich. Gezeigt wurden zunächst nur akademische Arbeiten der lokalen Künstler. Eine Werkschau, an der man ablesen konnte, was aktuell gearbeitet wurde.

Die Gesellschaft begann, sich mit Kunst auseinanderzusetzen. Wobei die Motive des Dargestellten immer noch die Natur, der Mensch, historische oder religiöse Ereignisse und mythologische Themen abbildeten, möglichst naturgetreu.

1839 passierte etwas Revolutionäres für die Kunst, nämlich die Erfindung der Fotografie durch Daguerre. In kurzer Zeit eroberte diese neue Technik der Abbildung die bis dahin von der Kunst besetzte Sparte der Portraitmalerei und der skulpturalen Bildnisse. Dies war der Anlass für die Künstler, mit neuen Inhalten, Techniken und Sichtweisen in ihren Arbeiten zu experimentieren. Es entstand u.a. der Impressionismus.

Neu war auch, dass Kunstwerke ohne Auftraggeber erschaffen wurden. Die Bildhauerei entwickelte sich nur langsam in diese Richtung, war es doch für einen Künstler unbezahlbar, die zumeist in Gips entworfene Figuren in Bronze oder Stein umzusetzen. Einer der berühmtesten Bildhauer jener Zeit war Rodin. 

Erst circa 100 Jahre nach der ersten Museumseröffnung, nämlich 1903 wird in Paris der erste autonome Kunstsalon eröffnet, um dort von Künstlern selbst ausgesuchte Werke auszustellen. Dies ist die endgültige Lossagung von Auftraggebern und vorgegebenen Bildinhalten. Die Kunst verselbstständigt sich immer mehr, es wird Kunst um der Kunst willen geschaffen.

Die Künstler beschäftigen sich von nun an mit anderen Themen, zum Beispiel mit der Wirkung von Farben auf die Seele (Kandinsky) oder der Auflösung der menschlichen Form in geometrische Elemente (Picasso). Aber auch die Industrialisierung fließt in die Arbeit ein, so zum Beispiel in die Skulpturen des Bildhauers Umberto Boccioni. Seine menschlichen Figuren zeigen die Geschwindigkeit der Bewegung beim Gehen. Sie sehen aus wie geometrische, mechanisierte Körper.

Ein weiterer großer Einschnitt für die Kunst, besonders in Deutschland, war Hitlers Regime und der zweite Weltkrieg. Die Ausstellung „entartete Kunst“ 1937 in München zeigte alle zu derzeit führenden modernen Künstler, die nicht nach der Natur arbeiteten. Ihnen wurde Berufsverbot erteilt, es sei denn, sie unterwerfen sich den ästhetischen Vorstellungen des Regimes. Während dieser Zeit flüchteten viele Künstler ins Ausland und tauschen sich dort mit anderen aus. Nach Ende des Krieges kamen viele wieder zusammen und begannen zu arbeiten. Was sie auf keinen Fall wollten, war die verhassten Bildmotive und die Ästhetik der Nazizeit auch nur ansatzweise in ihre Werke einfließen zu lassen. So verweigerten sie sich der Abbildung konkreter Gegenstände. Stattdessen malten sie mit Besen riesige farbige Pinselstriche auf Leinwände (Karl Otto Görtz) oder experimentierten mit Farbe auf Leinwand (Bernard Schultze). So entstand der Informel, mit Deutschland als größtem Zentrum dieser Kunstrichtung. In den 50er Jahren erlebte dieser seine Blütezeit. Auch die Bildhauerei lies Abstraktes in ihre Formensprache einfließen. Ein großes Vorbild wurde der englische Bildhauer Henry Moore.

Von da an ging alles in einem schnellen Tempo, die Kunstrichtungen wurden so vielfältig und veränderten sich genauso schnell wie das gesellschaftliche Leben.

Arbeitete zum Beispiel Henry Moore in den 60er Jahren seine abstrakten Formen noch in Stein oder Bronze und kam damit dem klassischen Begriff der Skulptur nahe, erweiterte sich ab jetzt die Kunstidee.

Alltagsgegenstände werden ihrem Kontext entrissen und durch die Art der Aufstellung im weißen Museumsraum neu wahrgenommen. Diese Objekte zeigen eine Formenqualität des Alltags, ohne dass ein Bildhauer im klassischen Sinne daran gearbeitet hatte. Die Idee und Aussage des Werks sind entscheidend. So zu sehen ist der gestapelte Fernsehturm von Nam June Paik 1963.

Ein weiterer neuer Kunstbegriff entsteht, die soziale Plastik. Auf der Documenta 1982 in Kassel, einer der weltweit wichtigsten Kunstausstellungen, die alle fünf Jahre stattfindet, stellt der Künstler Joseph Beuys sein Kunstprojekt „7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ aus. Zu sehen sind 7000 Basalt-Stelen, die von Kasselner Bürgern erworben werden können. Für jeden Stein wird eine Eiche gepflanzt. Mit dieser künstlerischen Intervention beginnt die Verschmelzung von Kunst und sozialem Engagement. Der Begriff der Skulptur im öffentlichen Raum wird erweitert.

Unsere heutige Sichtweise auf Kunst geht weit über die klassische Skulptur hinaus. Blickt man zurück auf die Skulpturenprojekte in Münster vor drei Jahren, ist festzustellen, jede erdenkliche Form und Ausführung eines Werkes ist akzeptiert. Die benutzten Materialien sind Beton, Epoxidharz oder Mixed Media (heißt alles, was der Künstler zusammengetragen hat, um seine Idee zu transportieren).

Der Begriff der Skulptur erstreckt sich heute von einem aufgerissenen Fußboden (Tate modern), über ein begehbares Abrisshaus, in dem ein eigener Kosmos simuliert wird (Münster), über ein T-Shirt, das über Stöcke gezogen wird und eine interessante Form bildet (Erwin Wurm), bis hin zu traditionell gefertigten Skulpturen, in die Videogeräte eingebaut sind, um ästhetische Botschaften zu verkünden. Selbst die Frage der dauerhaften Haltbarkeit tritt oft in den Hintergrund. Dies entspricht der Schnelllebigkeit unserer Zeit.

Die einzig verbindliche Voraussetzung für ein Kunstwerk: Es soll zum Diskurs mit dem Betrachter anregen, denn Kunst ist immer ein Spiegel ihrer Zeit.